Trennung von Kirche und Staat, privatem und beruflichem. In der Theorie hervorragende Konzepte. Aber in der Praxis gibt es auf der einen Seite die Kirchensteuer und auf der anderen die Entscheidung, mit wem man zusammen arbeitet und mit wem nicht. Womit man seine Zeit verbringt. Die Grenze verwischt. Umso mehr man ist, umso weniger Raum man dem Kapital als etwas mit einem Wert jenseits einer Tauschware einräumt.

Nachdem ich als zwanzigtausend mein erstes privates Blog gestartet habe, um einige Jahre später auf meiner beruflichen Website alle privaten Beiträge auszublenden, um nur noch über Fotografie, über berufliches zu schrieben, glaube ich mir diesen Luxus nicht mehr leisten zu wollen. Wo führt denn all diese vorgeschobene Professionalität hin? Die uns entmenschlicht, als arbeitende Wesen, voller Leistungsfähigkeit und Perfektion darzustellen versucht. Wir sind doch so viel mehr. Meine Moral, meine Werte sind mit das höchste Gut, das ich habe. Lässt mich in Zeiten finanzieller Knappheit die Zusammenarbeit mit Shell ausschlagen. Verhindert, dass ich für einen Großkonzern arbeite. Als Mineralogin Endlagerstätten suche. Führt mich mitunter in Schwierigkeiten, aber auch hin zur Fotografie. Nach Lesbos. Wo ist so unfassbar viel Unrecht gesehen habe, dass es mir zu fantastisch erscheint, um darüber schrieben zu können.

Wer sollte mir glaube, welche Gräueltaten Polizei und Küstenwache vollziehen. Menschen, die auf einem Schlauchboot vor Krieg, Folter und Vergewaltigung flüchten auf eben diesem Schlauchboot brutalst zusammen schlagen. Ihre Motoren zerstören und sie auf der offenen See zurück lassen. Systematisch. Ständig.

Wer soll mir glauben, dass Menschen aus West- und Zentralafrika aufgrund ihrer Hautfarbe für Monate(!) in Moria, der Hölle auf Erden, ins Gefängnis (ja, Moria hat ein Gefängnis. MoriaPlus sozusagen) gesperrt werden. Traumatisiert in einen Container weggesperrt. 1 Tag pro Woche Handy. 1/2 Stunde morgens und abends Tageslicht. Keine Bücher, kein Fernsehen. Keine psychologische Betreuung. Ohne Begründung, ohne Informationen, wie es weiter geht. Allein wegen ihrer Herkunft.

Wer soll mit glauben, dass Menschen, die ganz offiziell Asyl erhalten haben, denen also zugestanden wird, dass sie nicht in ihre Heimat zurück können, weil ihnen dort Schlimmstes droht, systematisch auf der Straße landen. Vom UNHCR weg geschickt werden. Ohne Essen. Ohne auf eine Warteliste gesetzt zu werden. Ohne den Hauch einer finanziellen oder anderweitiger Unterstützung. Ohne Aussicht auf irgendwas. Menschen mit Säuglingen, grade einen Monat alt, in Athen vor den Türen überfüllter Lagern schlafen, in der Hoffnung doch noch einen Platz in einem Zelt zu bekommen.

Wer soll mir glauben, dass Menschen, die Asyl haben, Lesbos offiziell verlassen dürfen, nicht auf die Fähre, die von der Insel führt, dürfen. Weil es in Moria einen (1) bestätigten Corona-Fall gab. Während es in der Stadt nebenan grob 100 Fälle gibt und diese Menschen, mit europäischen Pass, frei reisen dürfen.

Wer soll mir glaube, dass 2 Familien mit jeweils 5 Personen sich ein 15-20qm großes Zelt teilen, mit einem durchscheinenden Tuch als Trennwand in der Mitte. Und das über viele Monate bis Jahre.

Wer soll mir glauben, dass die Menschen, die darüber berichten angeklagt und verhaftet werden. Mit schlimmsten Vorwürfen und der Aussicht auf Jahrzehnte lange Haftstrafen.

Alles innerhalb der EU. Nichts davon findet im Geheimen statt.

Ich kann das selbst ja alles kaum glauben. So viele, so schwere Vorwürfe liegen auf meinem Herzen. Zerschmettern meinen Glauben an Europa in tausende kleine Stückchen, die ich nicht mehr zusammen zu setzen vermag. Wo ist sie, die Gerechtigkeit? Das große Ganze? Wo ist das herrschende Volk, wenn Einzelne, beim Versuch ganz klar illegale und das Leben verachtenden Pushbacks seitens Frontex oder der Küstenwache zu dokumentieren, mit einem Bein im Knast stehen. Wegen Spionage. Es ist so lächerlich wie unsere Politiker:innen, die uns eine Gerechtigkeit, eine europäische Idee vorgaukeln, aber doch von all dem wissen (sollten).

Ich habe sehr fest an diese europäische Idee geglaubt. An Gerechtigkeit. Daran, dass Gesetze, die dafür da sind Menschen in Not zu helfen, einen Wert haben. Bis ich begann mit den Menschen, die ohne europäischen Pass in der Hand geboren wurden, zu reden.

Moria, das leiddurchtränkte Lager ist abgebrannt. Die Menschen, die so gut wie nichts besaßen, haben nun nur noch das, was sie am Leib tragen. Den Tag gestern habe ich am Handy verbracht, um mit ein paar wenigen von ihnen zu reden. Menschen, mit denen ich vor wenigen Tagen noch einen Tee getrunken und über ihre Flucht, ihr vorheriges Leben, aber auch über Verhütung und ob man in Deutschland als Teenager einen festen Freund haben darf, gesprochen habe. Jetzt schicken sie Bilder (mit Bitte um Veröffentlichung, s.o.) und Videos, haben Durst, Hunger sind sehr erschöpft, übermüdet und haben Angst. Sie berichten von der Polizei, die nicht vor Ort ist, oder wenn sie vor Ort ist, mit Tränengas schießt und diejenigen, die Hilfe in Form von Wasser oder Essen, bringen wollen nicht durchlässt. Vor ein paar Monaten hätte ich bei solchen Berichten zweifelnd mit den Kopf schief gelegt. Aber dieser menschenverachtende Abgrund durchzieht nicht nur die Ägäis. Wir, hier in Deutschland, sind mitten drin, an seinem schwärzesten Punkt. Wir lassen es zu, dass einzelne Politiker:innen es aussitzen, das Menschen seit Monaten auf Hilfe warten. Eingepfercht, mit sich kontinuierlich verschlechternden Bedingungen. Wo ist sie, unsere Demokratie? Unser Europa?